Ich glaube, das Leben hat sich etwas Zeit genommen um mir ein paar Stunden zu erteilen. Thema des Unterrichts ist "verantwortlich Entscheidungen treffen und mit den Konsequenzen umgehen".
Ich denke, der Grund dieser Extra-Einheiten ist ein vielleicht zu sorgloses Umgehen mit dem hohen Gut des Lebens. Vielleicht habe ich es nicht so respektiert wie es das verdient hat. Vielleicht habe ich zu leichtfertig abgeurteilt. Schulterzuckend und mit einem "Na und?" auf den Lippen so getan, als wären Entscheidungen, die das Leben betreffen, einfach zu fällen.
Sicher war von allem etwas dabei. Jedenfalls durfte ich nun die Lehrstunden genießen.
Die erste kam in Form meiner Mama daher.
Sie ist nun grade etwas mehr als einen Monat in ihrem neuen Zuhause. Als ich Bruno abgeholt hatte, war der Besuch bei ihr schon fest eingeplant. Schließlich war ich bis dahin kaum dort gewesen. Sie wohnt jetzt nun mal 30 km entfernt und ich benötige immer jemanden der mich fahren kann. So machte ich mich am Nachmittag mit Bruno auf und fuhr sie besuchen. Ich war angenehm überrascht. Sie wirkte sehr aufgeräumt auf mich, schäkerte auch mal ein wenig mit den Pflegern und lächelte immer mal. Auch schien die Verzweiflung, die sie so oft fest im Griff hatte, etwas weiter weg zu sein. Wow. So hatte ich sie lange nicht mehr erlebt. Das war schön. Als ich mich wieder verabschieden wollte, kam kurz das "ich komme aber mit!" zurück. Das konnte ich aber recht schnell auffangen, denn sie konnte mich zur Tür begleiten. Dort haben wir uns verabschiedet und gewunken. Und das war für sie auch o.k.. Alles in allem ein gelungener Besuch. Das war Freitag, der letzte Freitag im März.
Samstag bekam ich einen Anruf vom Heim, bei dem mir mitgeteilt wurde, sie sei gestürzt. Leider hat sie die Hände nicht als Schutz hochgerissen, wie es jeder andere eigentlich reflexartig tut, sondern sie ist ungebremst auf ihr Gesicht geknallt. Das ist im Garten passiert, leider nicht auf dem Rasen.
Es wurde ein Rettungswagen gerufen und sie wurde ins Krankenhaus gebracht. Zum Röntgen und für weitere Untersuchungen. Es ist ja so, dass Krankenhäuser am Telefon keine Auskunft geben. So bin ich Sonntag Mittag hingefahren, schön, dass Bruno da ist, um mich über ihren Zustand zu informieren.
Ich erfuhr, dass ein CT eine Hirnblutung ergeben hatte. Wow, das war heftig. Die Ärztin sprach davon, dass es aktuell noch keine neurologischen Ausfälle geben würde, aber da sie sich gegen ein weiteres CT gewehrt habe, wüsste man nun nicht, was der Stand der Dinge sei. Und sie fragte mich, wie es weitergehen sollte, wenn der Zustand sich verschlechtern sollte.
Und da war die Lektion Nummer eins.
Die Ärztin wollte nämlich wissen, ob meine Mutter operiert werden soll, wenn die Blutung stärker werden würde, sodass es zu Ausfällen kam. Ich erfuhr, dass auch mit einer OP nicht klar ist, ob die Verletzungen des Gehirns "reparabel" sind. Es könnte genauso gut sein, dass die Probleme bleiben oder gar schlimmer werden. Wenn sie nicht operiert wird, könne dies zum Tod führen.
Uff.
Ich sagte der Ärztin, dass ich es gar nicht einschätzen kann und mich grade wie ein Richter über Leben und Tod fühle. Nichts anderes war ich ja auch. Wir haben noch einige Zeit die verschiedenen Möglichkeiten beleuchtet und dann war mir klar, dass ich meiner Mutter, die ja schon durch ihre Demenz so schwer krank ist, dass man ihr nichts mehr erklären kann, keinen Gefallen tun würde, wenn ich ihr nun auch noch den Kopf aufschneiden lasse.
So entschied ich mich gegen eine OP. Mit den dazugehörigen Konsequenzen. Und ich erfuhr, wie schwer es ist, dies vor sich zu vertreten. Ich nahm meine persönliche Empfindung zur Hilfe. Was würde ich wollen, wenn es mir so erging? Ich würde keine weiteren Schmerzen mehr haben wollen, sondern meine Ruhe. Und so sagte ich es der Ärztin. Damit war es aber noch nicht ausgestanden. Die nächste Frage war, ob ich denn dann auch nicht wollte, dass sie wiederbelebt werden würde, wenn es zum Äußersten kam.
Ähem... für solche Fragen war ich wirklich grade nicht aufgestellt. In der Konsequenz bedeutete dies natürlich auch, dass ich hier grade über ihr Leben richtete. Das war sehr hart.
Ich habe die Verantwortung ein wenig abgegeben. An den lieben Gott. Ich habe gesagt, dass ich keine solchen Maßnahmen mehr durchführen lassen möchte. Sollte der liebe Gott es an der Zeit finden, dann möge er sie holen. Nur schmerzfrei sollte sie sein.
So sind wir verblieben. Und ich bin ganz schön aufgewühlt heimgefahren. Sie zu sehen, habe ich gelassen, das hätte nur noch mehr Aufregung bedeutet und die wollte ich ihr ersparen.
Klar, ich habe es mit der Familie besprochen, aber die Entscheidung war meine, die Verantwortung dafür trage ganz alleine ich.
Die nächsten Tage brachten keine Verschlechterung und da ein weiteres CT nichts gebracht hätte, außer dem Wissen wie schlimm oder eben nicht die Blutung im Kopf meiner Mutter ist, wurde darauf verzichtet. Untersuchungen, die zu keinem Ziel führen, hier eine mögliche OP, werden auch nicht durchgeführt. War mir da auch noch nicht so klar, aber ist verständlich.
Mittwoch wurde sie dann entlassen. Zuerst dachte ich, weil es ihr besser geht.
Das Gespräch mit dem Arzt brachte aber den wahren Grund zu Tage. Wenn jemand nicht entsprechend behandelt werden kann, wird er nur noch gepflegt. Und das kann das Heim ebenso gut leisten.
Auch eine Erkenntnis, die mir da noch nicht so klar war.
Das sind die Konsequenzen, von denen ich eingangs gesprochen habe. Sicher, ich habe ich mir die Entscheidungen nicht leicht gemacht, aber dass sie so weitreichend waren, wurde mir erst nach und nach klar.
So war meine Mutter wieder im Heim.
Sonntag habe ich sie gemeinsam mit Jacqueline besucht. Der Sturz war nun eine Woche her und das Gesicht sah entsprechend aus. Grün, blau, gelb, Beulen.
Aber was mich richtig erschreckt hat: Sie kann keine Worte mehr artikulieren. Sie stammelt und lispelt irgendwas, was ich nicht mehr verstehe.
Da sie ja als dement eingestuft war, ist das als neurologischer Ausfall nicht so klar herausgekommen. Ich kann mich bis jetzt der Bilder aus dem Film "Einer flog übers Kuckucksnest" nicht erwehren. Es ist sehr nah an dem dran, was ich grade erlebe.
Und da ist der Schlag ins Gesicht. Wäre es durch eine OP möglich gewesen, das zu verhindern?
Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.
Und wieder habe ich viel gelernt.
Dass man einen Weg nur einmal gehen kann und dass man ihn nicht mal nur so zur Probe betritt. Losgegangen ist der Rückweg versperrt.
Und dann habe ich diesen Spruch gefunden. Danke dafür.
Und damit ich auch noch etwas üben kann, kam gestern dann die Frage nach der Entscheidung, ob ich Cindy operieren lasse oder nicht.
Nun bin ich etwas klüger, weiser? Jedenfalls weiß ich nun um die Wege, deren mögliche Konsequenzen, auch der Konsequenzen, die man noch gar nicht absehen kann. Dass es böse Überraschungen geben kann, die man nicht auf dem Schirm hatte und dass es bestimmt immer jemanden gibt, der es besser weiß.
Gut, nachher, aber immerhin. Und ich bin sicher, der wird das dann auch kundtun. Aber die Entscheidungen wollen vorher getroffen werden. Und auch hier habe ich mit Thompson beratschlagt.
Letztendlich muss ich es mit meinem Gewissen vereinbaren. Und das kann ich. Und darum ist die Entscheidung vielleicht nicht die richtige, aber die, hinter der ich stehe.
Und nun werde ich versuchen, die Alternativen zu vergessen.
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