Ralf ist grade mal 6 Jahre alt geworden.
Ein längeres Leben war ihm nicht vergönnt.
Wenn ich Dain Heer glauben kann, sucht sich ein Mensch aus, wann er gehen möchte. So ähnlich beschreibt er es in seinem Buch "Sei du selbst und verändere die Welt." Und tatsächlich glaube ich ihm
das. Denn ihr kennt das auch: Da stürzt ein Flugzeug ab und eine Familie, ein Paar, ein Mann, eine Frau... sind durch glückliche Zufälle nicht an Bord dieses Flugzeuges gegangen. Und haben so
überlebt.
Er geht sogar soweit zu sagen, dass die Toten in den Türmen des 11. September freiwillig gegangen sind. Jeder geht wann er es möchte. Auch hier waren viele Menschen durch Zufall nicht bei der
Arbeit, die sie in den sicheren Tod geführt hätte.
Man kann sich auf solche Thesen einlassen oder auch nicht.
Ich habe es, bevor ich diese Thesen las, Schicksal genannt.
Für mich ist das Schicksal unausweichlich. Was passieren soll, passiert. Ob ich mir dies unterwußt so aussuche, ist ein interessanter Aspekt. Möglich.
Ob Ralf sich ausgesucht hat, dass er am 12.04.1973 sterben möchte?
Der erste Impuls eines Jeden wird sein, zu sagen: "Niemals! Er hatte doch noch sein ganzes Leben vor sich!" Stimmt. Er sollte in dem Sommer eingeschult werden. Da hat er sich so sehr drauf gefreut. Wurde erzählt. Stimmt wahrscheinlich auch. Ich weiß es nicht so genau, denn ich war da grade mal 4 Jahre alt. Aber wissen wir auch, was ihm vielleicht durch diesen frühen Tod erspart geblieben ist?
Er war mein Cousin, sein Vater und meine Mutter sind Geschwister, und wohnte in der gleichen Stadt, nur in einem anderen Ortsteil. Dort konnte man von uns aus zu Fuß hingehen. Man war ca. 30 Minuten unterwegs. Ich da wohl noch im Kinderwagen. ;-)
Der Ortsteil war klein. Eine lange Straße führte durch, von oben wo Schule und Kindergarten, Kirche und Friedhof waren, nach unten, wo der Ortsteil durch eine Eisenbahnunterführung begrenzt wurde. Wenn man durch den Tunnel ging, war man raus aus Hockstein.
Auf dieser Straße wohnte Ralf mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester in einem Haus, in dem auch noch seine Tante und der Onkel wohnten. Wenige Häuser weiter wohnten meine Oma und mein Opa, die Eltern meiner Mutter.
Es war ein Ort wo jeder jeden kannte.
Wenn ich meine Großeltern besuchte, gab es viele Möglichkeiten:
Sie wohnten zur Miete, unter dem Dach. Im Erdgeschoß war ein Friseursalon. Hier durfte ich die gewaschenen Handtücher auf die Wäschespinne zum Trocknen aufhängen. Das war klasse. Naturgemäß kam ich nur an die unteren Leinen, war aber egal.
Oder ich ging mit meiner Oma rüber zu Ralfs Familie.
Die hatten einen riesigen Garten. Ganz am Ende standen Obstbäume. Dort war eine Schaukel in den Bäumen angebracht. Ein Autoreifen, auf den man sich setzen konnte. Einen Dackel gab es auch, das war Hund der Tante, aber der war irgendwie so ein wenig wie Cindy, man wußte nie, ob er nicht doch mal schnappte. Ich hatte recht großen Respekt vor ihm.
Er hieß Akki.
Ralf und ich verstanden uns super. Ich mochte ihn total und habe mich immer gefreut, wenn wir rüber gehen konnten. Manchmal war er auch bei meiner Oma.
Einmal hat er den Kühlschrank zugeknallt und mein Finger war noch drin. Autschn!
Ich habe ihn als sehr lieben Jungen in Erinnerung, nie hat er mich geärgert. Während ich vor seiner Schwester ein wenig Schiß hatte, weil sie schon mal komische Ideen ausbrütete, war er mein Kumpel.
Die Erwachsenen sagten aus Spaß immer, dass wir beide sicher mal heiraten werden. Das war für mich sonnenklar. :-)
Wenige Wochen vor seinem Tod musste ich mich schon von meiner Oma Maria verabschieden. Sie war die Mutter meines Vaters und lebte mit in unserer Wohnung. Die mit knapp 70 qm für drei Erwachsene und ein Kind eher klein war. Aber zu der Zeit war das wohl kein Problem. Ich schlief im Schlafzimmer meiner Eltern in meinem Kinderbett und Oma in dem Zimmer, das später unser Kinderzimmer werden sollte. Sie war zu Besuch bei ihrer Schwester, als sie einen tödlichen Herzinfarkt erlitt. Wir hatten noch kein eigenes Telefon. Wenn es also klingelte und ein Nachbar, der da schon eines hatte, sagte, es möge bitte mal jemand ans Telefon kommen, war klar, dass was Ernstes geschehen war. Nur zum Quatschen rief niemand den Nachbarn an.
So wurde meinem Vater die Todesmitteilung überbracht. Oma kam nicht mehr heim. Das war sehr traurig.
Wenige Wochen später wurde mein Vater erneut vom Nachbarn ans Telefon gerufen. Diesmal ging es um Ralf...
Meine Oma starb im Februar 1973. Wenn man davon ausgeht, dass auch sie sich den Todeszeitpunkt ausgesucht hat, dann vielleicht aus dem Grund, weil im März mein Bruder zur Welt kommen sollte. Und dann hätten zwei Kinder im Schlafzimmer schlafen müssen. So ein zusätzliches Zimmer wäre dann schon praktisch. So könnte man annehmen, dass sie uns ihr Zimmer vermachen wollte.
Sie war eine klasse Oma, die auch immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen hat.
Klickt für Infos
Ende März wurde dann mein Bruder geboren. Es wird erzählt, dass Ralf das Baby unbedingt sehen wollte. Er wurde noch etwas vertröstet. Dazu ist es dann nicht mehr gekommen.
Der 12.April 1973 war kalt. Es hatte in den Tagen vorher sogar noch geschneit.
Die Zeitungsausschnitte habe ich vor einigen Jahren im Archiv gefunden und fotografiert. Ralfs Tod hat mich immer sehr beschäftigt und ich erhoffte mir, etwas mehr darüber zu erfahren. In der gesamten Familie wurde er im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen.
Entweder war es eine Unart der damaligen Zeit oder eine meiner Familie. Vielleicht ein Mix aus beidem. Was man nicht ansprach war nicht da. War es wohl, nur durfte es nicht gezeigt werden.
Als er beerdigt war, wurde nicht mehr groß über ihn gesprochen. Stellte ich Fragen, entstand unangenehmes Schweigen. So ließ ich es auch bald sein.
Vermissen tat ich ihn dennoch. Bis heute.
Ralf war etwas erkältet, hatte Halsweh. Und er war etwas unleidlich an dem Tag. Meine Oma erzählte später, dass er bei ihr war und rumquengelte, etwas, dass sie an ihm so nicht kannte, er war immer eher ein Sonnenschein.
Schon im April kam täglich ein Eiswagen die Straße entlang gefahren. Es war anzunehmen, dass der auch an diesem Tag kommen würde. Aber ihm wurde das Eis von seiner Mutter verboten, weil er nicht hörte und nicht recht gesund war. Das passte ihm natürlich nicht.
Zu seinem (Un-)Glück ging seine Mutter aber am Nachmittag rüber zum Friseur um sich die Haare machen zu lassen. So hatte Ralf die Chance, seinen Vater um 50 Pfennig zu bitten, damit er sich ein Eis holen konnte.
Als das "Eismännchen" schellte, tat er genau das. Und sein Vater gab ihm die 50 Pfennig. Die Straße war zu der Zeit gesperrt und nur für Anlieger zugelassen, weil sich eine Baustelle auf ihr befand.
Und hier stellt sich mir die Frage nach dem Schicksal, oder der Möglichkeit, dass man selber bestimmt wann man gehen möchte.
Es waren soviele Faktoren, die dafür gesprochen haben, dass Ralf diesen Tag überlebt. Aber keiner hat ausgereicht, dies auch zu bewerkstelligen.
Als er mit seinen 50 Pfennig in der Hand aus der Haustüre stürmt um auf die gegenüberliegende Seite zu rennen, wo der Eiswagen gehalten hatte, kommt ein PKW die gesperrte Straße entlang und erfasst ihn. Er schleudert ihn ein paar Meter weiter wo er regungslos liegen bleibt. Seine Schwester wurde Zeugin des Unfalls, weil sie grade auf der Straße war.
Zu dieser Zeit gab es keine psychologische Betreuung für die Angehörigen. Hinzu kam, dass niemand darüber sprach. Jeder war mit seinen Gedanken alleine.
Auf seiner Beerdigung war ich in Tränen aufgelöst als ich verstand, dass er nun auch nicht mehr da ist. Ich erinnere mich, wie ich laut schluchzend und völlig untröstlich in den Mänteln der Umstehenden versank und mein Gesicht da hinein presste. Wessen Mantel das war, keine Ahnung, er war mit Fischgrat-Muster und kratzig.
Das Grab gibt es schon sehr sehr lange nicht mehr. Es war nur für eine bestimmte Zeit gepachtet und dann wurde es aufgelöst. So habe ich mit Hilfe einer Bekannten (danke dir Sigrid!) eine virtuelle Gedenkstätte errichtet. Und ihn natürlich immer in meinem Herzen.
Ich weiß, dass er auf mich aufpasst. Er hält seine Hand über mich und schaut, dass es mir gut geht. Sehe ich einen Schmetterling, sehe ich das als einen Gruß von ihm an.
Sein Tod hat die komplette Familie erschüttert. Seine Eltern haben ein Jahr später noch eine Tochter bekommen. Vielleicht um sich zu heilen. Aber eine solche Wunde kann man nicht heilen. Nicht auf diese Weise. Sprechen und Erinnern hätte vielleicht geholfen. Aber das hat sich niemand erlaubt, um den anderen oder sich selbst nicht noch mehr zu verletzen. Doch, die Verletzung ist da. Klebt man ein luftdichtes Pflaster drauf, nässt die Wunde und heilt nicht. Nur frische Luft kann sie verschorfen und abheilen lassen.
Es gab Querelen in der Familie, Streit, Zank um Nichtigkeiten, es war wie ein Erdbeben, dass alles durchgerüttelt hat und kein Stein mehr auf den anderen zurück gelassen hat. Jeder von uns hat seine Wunden davon getragen. Dadurch, dass niemand sie sehen durfte, ist viel unnötiges Leid entstanden.
Es war fast schon skurril. Ein oder zwei Wochen nach seiner Beerdigung wurde die Kommunion seiner Schwester gefeiert. Niemand kam auf den Gedanken, sie abzusagen und ein Jahr zu verschieben. Es wurde so getan, als sei alles bestens.
Ich wünsche euch, dass ihr besser mit den Verlusten umgeht, die unausweichlich zum Leben dazu gehören.
Sprecht, hört zu und teilt euch mit. Sucht Trost und tröstet. Seid füreinander da, auch wenn es im ersten Moment noch mehr schmerzt. Es wird besser. Bestimmt.
Kommentar schreiben