Zuhause angekommen, habe ich dann die Infomappe durchgeblättert. Die war ungefähr so neu wie der 70-er-Jahre-Flair der Uniklinik. Die Bilder waren auch etwa so alt.
Prima. Was man alles lesen konnte. Von Kraftschwund in den Armen, dem Ernähren durch eine Sonde, weil man nicht mehr schlucken kann, der Beatmung. Augensteuerung von Bildschirmen, weil man komplett bewegungsunfähig war. Und immer der Rat, man möge Hilfsmittel vorausschauend bestellen, weil die Erkrankung einen während des Bestellens überholt und man das, was man vor wenigen Wochen noch dachte zu benötigen, nicht mehr brauchte, weil man dem schon nicht mehr gewachsen war. Was es doch für tolle Dinge gab! Super!
Ich hab den Kram in einen Korb gepfeffert und nun steht das Büchlein im Vorratsraum. Reingeschaut habe ich seither nicht mehr. Auch weigerte sich etwas in mir, zu akzeptieren, dass ich an ALS
erkrankt sein sollte. Bis heute. Ich sage, dass ich eine Motoneuronen-Erkrankung habe. Was wohl auch stimmt.
Den Kindern habe ich dann widergegeben, was die Ärztin gesagt hat.
Die darauf folgenden gemeinsamen Essen waren das bedrückendste, was ich in meiner Familie jemals erlebt habe. Keiner wusste irgendwas zu sagen, es fehlten alle die Worte. Ich war den Tränen nahe
und auch dem Rest der Familie ging es nicht groß anders.
Der Bericht der Klinik kam an meinen Hausarzt und an meinen Neurologen. Vor allem mein Hausarzt war ebenfalls erschrocken und auch ein wenig verzweifelt wie mir schien.
Ich wollte das alles nicht hören. Von degenerativen Veränderungen und der ganzen Kacke. Keinen Bock drauf. Mich dem hinzugeben konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Ich war nun ständig damit
beschäftigt, darauf zu achten, ob ich anders schluckte oder griff. Der Scan läuft seither täglich ab, teils unbewusst aber immer vorhanden. Ist meine Stimme belegt, geht eine Alarmleuchte an,
zittern meine Hände, auch, kann ich mal nicht tief durchatmen, genau so. Immer die Frage, ob das nun
ein Zeichen einer weiteren Verschlechterung ist. Bisher ist es so, dass meine Arme eher kräftiger geworden sind, weil sie den Rest des Körpers rüberhieven, wenn ich meine Plätze wechsle.
Schlucken und Atmen geht nach wie vor problemlos. Aber die Unsicherheit bleibt und wird mich bestimmt noch einige Zeit begleiten. Entweder, bis tatsächlich eine Verschlechterung eintritt oder bis
so viel Zeit vergangen ist, dass auch die Ärzte nicht mehr dran glauben.
Schön wäre zweites.
So, da standen wir nun mit unserer Kunst und schauten dumm in die Gegend rum.
Nach und nach reifte der Lebensplan, dass wir mit dem umgehen, was ist und uns nicht schon um Sachen einen Kopf machen, die noch gar nicht eingetreten sind, es vielleicht auch nie tun. Damit
konnten wir alle recht gut umgehen. Ich denke, die Sorge, das kleine Fragezeichen haben alle im Kopf, aber wir haben uns entschieden, uns davon nicht die Stimmung vermiesen zu lassen. Sollte es
einmal so weit kommen, werden wir auch damit umgehen. Es im Voraus im Kopf immer und immer wieder durchzuspielen, nutzt niemandem und macht einen, meiner Meinung nach, eher noch kranker.
Dennoch: Diese Zeit war die für mich kräftezehrendste in meiner bis heute dauernden Krankengeschichte. Psychischer Stress kann einen echt erschöpfen. Hier kann ich nur allen Ärzten raten, auch
wenn Patienten die Wahrheit wissen müssen, man kann sie so oder so verpacken. Mit dem flachen Brett gegen den Schädel sollte man sie den Menschen nicht knallen, zumal, wenn sie noch nicht mal
gesichert feststeht.
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