Alltagskompetenz


Ja, ich bin gehbehindert.  Aber, hey, das bin ich 24 Stunden am Tag und nicht erst seit gestern. Der Rollstuhl ist meine Gehhilfe. Ich kann das. Ehrlich. Ich weiß was gut für mich ist. Ich weiß auch, was ich kann und wie. Und ich weiß, was ich nicht kann. Und ich kann sprechen. Und meiner Meinung nach, habe ich auch alle meine Sinne zusammen. Das ist doch ne Menge oder?
Darum meine Bitte: Lasst mich machen.
Ja, es dauert manchmal etwas länger.
Einsteigen in ein Auto bedeutet,

dass ich erstmal ranfahren muss, zirkeln, Winkel abschätzen, schauen, wie weit der Beifahrersitz weg ist. Kurzes Gebet, dass ich bitte nicht zwischen beiden Sitzgelegenheiten lande… Und dann mit Hilfe meiner Armkraft rüberhieven vom Rolli auf den Sitz. Beinchen stehen dann meinst noch auf den Fußrasten, also auch die einladen, erst links, dann rechts. Bin drin. Aussteigen genauso. Die brenzligste Situation ist immer, wenn ich sozusagen frei schwebend zwischen den Sitzen unterwegs bin. Bleibe ich mit einem Kleidungsstück irgendwo hängen, macht plötzlich ein Arm schlapp oder habe ich mich verschätzt, geht es wahrscheinlich abwärts. Ist bisher aber noch nicht passiert. Bestimmt wegen des Betens. ;-)
Aber es geht auch nicht schneller, wenn einer hinter mir steht und fragt: “Soll ich den Rollstuhl noch was näher schieben?“ „Nein, geht, danke.“  „Willst du dich an mir festhalten?“ „Nein, danke, ich halte mich lieber an statischen Gegenständen fest.“ „Aber ich kann dir doch helfen.“ „Nein, kannst du nicht, denn ich bin schwerer als du denkst. Mich hebt man nicht mal eben hoch, denn ab der Lendenwirbelsäule abwärts ist keine Muskelkraft mehr da, die dein Tragen unterstützen kann. Ab da habe ich den Status ‚‘nasser Kartoffelsack‘. Geht nicht.“ „Meinst du echt?“ „Jepp.“  „Warte, ich schieb ihn noch was näher.“  Oder: Ich sitze zwar, aber die Beine sind noch draußen auf dem Rolli und mein Helfer zieht den Rolli weg… Die brauche ich zwar nicht mehr so oft, aber lass sie trotzdem bitte dran.
AAARGH!
Ich weiß wie ich am besten in ein Auto einsteige. Ja, es dauert und ich muss manchmal etwas rangieren um den richtigen Winkel zu bekommen, aber ich weiß was ich tue.  Und da ich das nicht zum ersten Mal mache, habe ich auch so ziemlich alle möglichen Arten durch und mich für die jeweils beste entschieden, denn ich möchte auch unfallfrei die Sitze wechseln. Bitte gesteht mir zu, dass ich das kann. Ihr helft mir am besten, wenn ihr es aushaltet, dass es etwas dauert. Sollte ich Hilfe brauchen werde ich das sagen. Und bevor ihr etwas tut, bitte setzt mich davon in Kenntnis. Ein kurzes: „Kann der Rolli weg?“, hilft ungemein.

Meine Familie hat das voll im Griff. Wenn ich mit Thompson einkaufen fahre, lässt er mich einsteigen und räumt solange den Einkauf in den Kofferraum. Auch die Kids können es.

Klar, haben auch alle einen Haufen mehr Übung, als jemand, mit dem ich mal mitfahre.


Folgendes Bild: Ihr geht eine Straße entlang, möchtet die Straßenseite wechseln. Grade die Fahrbahn betreten, schnappt sich wer euch von hinten, hebt euch hoch und trägt euch rüber.  Ich glaube, ihr würdet euch erschrecken und anschließend würdet ihr ihn fragen, ob er noch alle Latten am Zaun hat.
Das geschieht mit mir, wenn mich jemand wohlmeinend schiebt ohne mich davon in Kenntnis zu setzen. Ich habe meine Hände an den Rädern um mich anzuschieben. Kommt dann ein Helferlein von hinten und gibt mir plötzlich Schwung klemme ich sie mir vielleicht. Das ist nicht schön. Und das ist auch nicht schöner, wenn erst geschoben wird und dabei gesagt wird: „Ich helf‘ dir mal eben.“ Lasst es mich entscheiden. Fragt, oder besser noch, wartet bis ich frage. Toll macht es meine Tochter. Wir fahren und wenn sie anfängt mich zu schieben, sagt sie „Got you, Mom!“, ich lasse los und sie übernimmt. Finde ich superklasse!


Erlebt: wir fahren durch eine Tiefgarage, hatten grade geparkt, sind auf dem Weg nach draußen. Wir müssen durch eine Türe, ich fahre und plötzlich ein erschreckter Ruf: „Pass auf!“ Ich völlig erschrocken und irritiert, hebe alles was ich habe und frage: “Was?“  Da kommt die Antwort: „Ich dachte du klemmst dir die Finger. Als du durch die Türe wolltest.“ Ähem… kommt es ständig vor, dass ihr beim Durchqueren von Türen dagegen rennt? Dass ihr nicht abschätzen könnt wie breit ihr und wie breit die Türe ist? Nein, oder? Bei mir auch nicht. Anfangs war es tatsächlich so, dass ich mit den Händen zwischen Schwungrad und Türe hing, ich hatte oft die Knöchel  aufgeschrubbt. Aber das ist schon lange Geschichte. Ich weiß wo ich passe und wie ich passe. Wenn es eng wird, gebe ich mir Schwung, hebe die Hände und rolle durch. Ich weiß auch wo mein Kopf ist und fahre ihn nicht gegen Regale/Vorsprünge, etc..
Was ich nach wie vor unterschätze, ist der Hintern meines Panzers. Da wird es schon mal eng. Für den hinter mir stehenden. Für mich nicht so. Grins. Aber auch daran arbeite ich.

Wenn ich mir was wünschen darf: Bitte fragt, ob ihr helfen könnt. Ich finde es total nett von Euch! Es ist toll, wenn sogar fremde Leute auf mich zukommen und fragen, ob ich was brauche, weil ich zum Beispiel vor einem Einkaufsmarkt auf meinen Mann warte, der einen Einkaufswagen holt.

Oder wenn ich durchs Einkaufszentrum schippere und mir in meinem Lieblingsladen(fängt mit „s“ an und hört mit „Oliver“ auf ;-)) die Ware ansehe. Dort sind alle Angestellten soooo nett und freundlich. Sie kommen zu mir, fragen, ob ich klar komme und wir vereinbaren, dass ich mich melde. Und dann kann ich in Ruhe durch die Ständer kullern und bekomme sofort Unterstützung wenn ich sie benötige. Total schön! Ich freue mich darüber! Ich fühle mich wahrgenommen und unterstützt.
Es ist halt nur wichtig, auch dann erstmal meine Antwort abzuwarten und nicht schon mit Helfen zu beginnen, ohne zu wissen ob und wie.
Hier liegt das Geheimnis der Erfolges: Abwarten, aushalten, Geduld haben und Vertrauen in mich  und meine Alltagskompetenz setzen. Am liebsten vereinbare ich mit meinen Begleitern, dass ich mich melde. Tue ich das nicht, ist alles ok und ich benötige keine Hilfe. Ich danke euch!
Und darf euch sagen: Ich war als Laufende keinen Deut besser. Ich wusste auch am besten, was der Rollifahrer braucht. So sind se halt, die Nicht-Behinderten. ;-)

Und noch eine kleine Anekdote:  In unmittelbarer Nähe zu unserem Haus ist ein Lebensmittelgeschäft. Hier kaufe ich schon mal Kleinigkeiten. Mit dem Panzer, nehme einen Einkaufskorb auf den Schoß und lade ein. An der Kasse sitzt gerne ein junger Mann. Er besteht darauf, dass ich ihm meinen Rucksack gebe, damit er die Ware dort hineinlegen kann. Jeder Protest, dass ich das auch machen kann, war umsonst. Nun füge ich mich und reiche ihm brav meinen Rucksack, er scannt, packt ein, dann wird der/die hinter mir stehende von ihm instruiert, den Rucksack hinten an den Rolli zu hängen. Und ich darf fahren. :-D


Bild: Frau auf Schaukel
Ich komm da zwar nicht rauf, aber man muss ja auch gönnen können. ;-)




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